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Henning seufzte vor Erleichterung, weil sich die Tür zur Cafeteria öffnen ließ. Der Feiertag sorgte für leere Tische und Stühle. Wie ein Amphibienfahrzeug steuerte er in erstaunlich gerader Bahn auf die Ausgabetheke zu und stieß dabei immer wieder gegen die Stühle. Kjell und Barbro folgten ihm durch den Mittelgang.
Eine Handvoll Menschen saß in größtmöglichem Abstand zueinander an den Tischen. Am Fenster entdeckte Sofi Nils Kullgren. Der Chef der schwedischen Geheimpolizei aß ein Croissant und blätterte in der Zeitung von gestern. Kullgren war bereits mit Anfang vierzig Chef der Säpo geworden. Die scharfen Gesichtszüge und seine schwarzen Maßanzüge hatten seinen Ruf als Hai niet- und nagelfest gemacht. In der Vergangenheit hatte es einige persönliche Momente zwischen Sofi und Kullgren gegeben, deshalb hätte sie es als unhöflich empfunden, ohne ein kurzes Gespräch an ihm vorbeizugehen.
„Der sechste Juni ist der schlimmste Tag des Jahres“, murmelte Kullgren, ohne auch nur den Blick von der Zeitung zu heben.
„Nur wenn man bei der falschen Polizeibehörde ist“, erklärte ihm Sofi und nahm dabei den Satz auf, den Kullgren bei jeder ihrer Begegnungen mindestens einmal fallenließ, um sein Interesse an einer feindlichen Übernahme zu bekunden. „Wie viele Leute hast du draußen?“
„Außer der Lohnbuchhaltung so gut wie alle. Die Königsfamilie winkt, der Staatsminister hält eine Rede, und allein in Stockholm gibt es sechs Demonstrationen, zwei davon faschistisch.“
„Mach’s gut“, sagte Sofi und ging zur Theke. Sie versuchte immer, das Gespräch mit Kullgren unvorhergesehen zu verlassen. Das war noch besser, als das letzte Wort zu haben. Die anderen saßen längst an ihrem üblichen Tisch am Fenster.
Die neue Personalrätin hatte sich mit dem Versprechen auf eine Caffè-Latte-Maschine zur Wahl gestellt und ihren Posten bei der nächsten Sitzung gleich wieder verloren, als allen klar geworden war, dass der Kaffee wegen dieser Anschaffung von nun an 29 Kronen kostete. Sofi schenkte sich schwarzen Kaffee aus der alten Warmhaltekanne ein und nahm einen Apfel aus dem Korb neben der Kasse.
„Wir müssen die Frage erörtern, wie, wann und warum die Fasces nach Stockholm gebracht wurden“, begann Kjell die Morgenbesprechung mit dem Mut eines Festredners, der weiß, dass die anderen die Arbeit erledigen würden.
Henning knurrte skeptisch. „Wem gehören sie eigentlich? Ich meine, wenn der Archäologe sie als Jahrhundertfund betrachtet, dann muss es doch einen Besitzer geben.“
Sofi versuchte, sich über die glänzende Oberfläche ihres Apfels selbst in die Augen zu schauen. „Sie haben nicht in der Erde gelegen, also müssen sie irgendwo gelagert worden sein.“
„Zumal niemand in der Fachwelt jemals von ihnen gehört hat“, fügte Barbro hinzu.
Henning knurrte erneut. „Ich bin mir nicht so sicher. Nehmen wir an, die Italiener wissen von den Fasces. Würden sie dann nicht besonders daran interessiert sein, dass die Ermittlungen vorankommen? Wie zum Beispiel genau jetzt?“
Barbro wollte den Grund wissen.
„Wenn sie römisch oder etruskisch sind, dann gehören sie als Fund dem italienischen Staat“, erklärte Henning. „Deswegen.“
„Eigentlich können wir die Existenz der Fasces bis zur Anklage geheim halten“, überlegte Kjell. „Mal sehen, ob Rom in der Zwischenzeit darauf zu sprechen kommt. Wir können ja nur vermuten, dass die diplomatische Immunität der Botschaft für den Transport der Fasces missbraucht wurde.“
Sofi zückte ihren Stift. „Wie lautete unsere Arbeitstheorie?“
„Fabia Terni, oder besser, die tote Frau, hat die Fasces nach Italien geschafft.“
„Mmm, nein.“ Sofi schüttelte den Kopf. „Erstens reiste sie mit einer zu kleinen Tasche.“
Sie legte ihren Stift weg und biss in den Apfel, um Kjell zu signalisieren, dass sie das nicht als Arbeitstheorie aufschreiben würde.
„Ohne das Holz passen die Fasces vielleicht hinein.“
„Nein. Das Gewicht ihrer Tasche betrug nach den Angaben der Fluggesellschaft sechs Kilogramm. Eine Axt wiegt allein vier Kilo.“
„Sie ist vielleicht mehrmals gereist. Nur so wird ihr Gepäck nicht durchleuchtet.“
„Aber nur einmal sie ist als Diplomatin eingereist.“
„Warum fuhr sie nicht mit dem Auto?“, wollte Henning wissen.
„Zweitens!“, sagte Sofi. „Fabia Terni und Massimo Maero stehen nicht auf derselben Seite. Wenn Fabia die Fasces hierherbrachte, dann ergibt der Mord an Maero keinen Sinn.“
„Du glaubst, dass Maero sie transportiert hat?“, fragte Kjell.
„Nicht nur das. Er hat sie gestohlen oder war zumindest an ihrem Raub beteiligt. Denn die Vorbesitzer sind ihm hierhergefolgt und haben ihn ermordet.“
„Moment mal!“, rief Barbro. „Das ist gut. Es erklärt nämlich auch Fabias Rolle und die Frage, warum die Vorbesitzer auf zwei Fronten aktiv waren. Ich erkläre euch mal, wie es war!“
„Gerne“, sagte Kjell.
„Nämlich so: Maero fliegt mit den Fasces hierher. Die Vorbesitzer kommen dahinter und senden Maero in der Walpurgisnacht einen bildgewaltigen Gruß in Form eines Überfalls auf die Botschaft. Vielleicht willigt Maero zu einer Rückgabe ein, wenn auch nur zum Schein. Für die Übergabe sendet man jemanden nach Stockholm, der die Fasces unbehelligt vom Zoll wieder nach Italien bringen kann. Wenn es sich wirklich bewahrheitet, dass Fabia gar nicht Fabia ist, dann ergibt sogar das Ein- und Ausreisen einen Sinn. Fabia gehört zu den wahren Eigentümern der Fasces oder handelt in ihrem Auftrag. Sie ist bereits vorher in Stockholm. Als die Übergabe stattfinden soll, reist sie aus und mit der diplomatischen Immunität wieder ein. Sie trifft sich mit Maero, der ihr an der Bibliothek den Schlüssel zum Schließfach übergibt. Maero will auf die Fasces jedoch nicht verzichten und lässt Fabia überfahren.“
Beim letzten Satz bildeten sich Falten auf der Stirn aller Kollegen.
Sofi fand als erste Worte. „Dann wäre alles nur eine Farce, Barbro. Dann hätte er sich gleich weigern können.“
Henning und Kjell äußerten weitere Vorbehalte. Das Szenario war viel zu riskant. Maero war ja selbst bei der Bibliothek aufgetreten. Auch Charun war dort gewesen.
„Aber der zweite Überfall auf die Botschaft kurz darauf legt die Annahme doch nahe, dass es so war“, erwiderte Barbro. „Maero ging nur zum Schein auf die Rückgabeforderung ein.“
Henning rieb sich die Augen. „Im Prinzip hast du recht. Aber dein Szenario ist zu klein. Es gibt eine weitere Partei, die wir noch nicht kennen. Wer hat zum Beispiel die Frau überfahren? Wer war der erste Mann bei der Leiche? Wir müssen herausfinden, wer das ist und in welchem Verhältnis er zu Maero steht.“
„Und wie willst du das machen?“, fragte Sofi.
„Wir müssen den Mann vom Schließfach finden. Er steht auf der dritten Seite.“
Die anderen zweifelten daran, dass er sich jetzt noch in Schweden aufhielt.
Der dunkle Teint des Mannes vom Schließfach passte zu den unbekannten Männern vom Unfallort. Aber die Beschreibung der Zeugen war so vage, dass eine genaue Identifikation wohl nie gelingen würde. Er konnte sowohl im Unfallwagen gesessen als auch als erster Mann zur Leiche gegangen sein.
Henning stand auf und klemmte sich seine Jacke unter den Arm. „Wie die Fasces nach Stockholm gekommen sind, ist immer noch offen. Es gibt eine Verbindung zwischen Maero und dem Fahrer des Unfallwagens, da bin ich mir sicher.“
„Was hast du vor?“, fragte Barbro.
„Ich fahre nach Arlanda und schaue mir wieder Videos an. Macht’s gut!“
Barbro stand ebenfalls auf. Sie wollte ausgewählten Zeugen die Videobänder vom Schließfach vorführen. Vielleicht hatte sie doch Glück.
„Und was soll ich tun?“, fragte Sofi, als sie mit Kjell in den Aufzug stieg. Sie hatte wirklich nicht die geringste Ahnung.
„Der italienische Internermittler hat sich gemeldet. Nach Prüfung der Überwachungskamera der Botschaft bestätigt er, dass die vermeintliche Fabia Terni am Freitagnachmittag bei Maero war.“
„Dann hat er die Wahrheit gesagt.“ Die Türen schlossen sich und der Aufzug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. „Warum sollte er das eigentlich tun?“
„Kannst du dich noch daran erinnern, wie sehr Maero erschrak, als wir ihm Fabias Foto zeigten? Der Schock war echt, aber ich habe ihn falsch gedeutet. Er galt nicht ihrem Tod, sondern der Tatsache, dass wir Fabia so schnell mit Maero in Verbindung gebracht haben. Darauf war er nicht vorbereitet. Er musste zugeben, sie zu kennen. Seine Augen hatten ihn längst verraten.“